Fietsende Nederlanders – Radfahrende Niederländer
Fietsen – ist nationaler Habitus
Bei den Sozialwissenschaftlern wurden wir fündig auf unserer Spurensuche nach der Vergleichbarkeit und den Unterschieden im Selbstverständnis von Radfahrern:
Für ihre Antrittsvorlesung am Norbert Elias-Lehrstuhl für Langfristige Prozesse an der Erasmus Universiteit Rotterdam wählte Prof. Dr. Giselinde Kuiper am 11. Juni 2010 den Titel: De fiets van Hare Majesteit. Over nationale habitus en sociologische vergelijking (Das Fahrrad Ihrer Majestät. Über nationalen Habitus und soziologische Vergleichbarkeit). Sie beschreibt die Randbedingungen einer Übertragbarkeit der niederländischen fietscultuur.
Der selbstverständliche Gebrauch des Fahrrads, so Prof. Dr. Kuipers, unterliegt in den Niederlanden – und das ist das Besondere – nicht einem vom Staat verordneten System. Der Grund dafür liegt im „nationalen Habitus“.
Darunter versteht sie (u.a. nach Norbert Elias)
„erlernte Praktiken, Gewohnheiten, Gefühle und Standards, die so sehr Teil von uns selbst sind, dass sie sich selbstverständlich und ganz natürlich anfühlen. Habitus ist unsere kulturell und sozial bestimmte `zweite Natur`.“
(Zitat siehe Seite 3 der Antrittsvorlesung http://www.giselinde.nl/fietsvanharemajesteit.pdf (Anm. d. Red. 01.11.24: PDF ist nur noch auf openjournals.ugent.be verfügbar). In gekürzter Form – dafür aber mit Bildern von ihrer fietsenden Majestät – finden Sie diesen Text außerdem unter http://dare.uva.nl/document/2/98774.)
Die von Prof. Dr. Kuipers so genannte „zweite Natur“ der Niederländer lässt sich nicht mal eben schnell erlernen, denn schon seit historischen Zeiten hat das Zusammentreffen unterschiedlichster Ereignisse das niederländische Selbstverständnis geformt. Es entwickelte sich durch Jahrhunderte – lange vor der Erfindung des fiets.
„Habitus“ ist Teil der persönlichen Lebensgeschichte jedes Menschen und diese wiederum wird geformt durch die Geschichte des Zusammenlebens in einer Gruppe, an der wir Teil haben (ibid. S. 3).
Wir vom Team www.hemelse-modder.de sind natürlich für Sie der Spur dieser „Gruppe“ gefolgt, haben verschiedene Bücher zum Thema „Geschichte der Niederlande“ zu Rate gezogen …
… und möchten Ihnen dazu für einen sehr lebensnahen und unterhaltsamen Einstieg das Buch von Dik Linthout nahelegen: Frau Antje und Herr Mustermann. Niederlande für Deutsche. Berlin, 2010.
In unserer Ausgabe von 2008 fassen die Seiten 86-130 diese Geschichte zusammen, natürlich ohne dass der Autor ahnte, wie wir seine Zusammenfassung der niederländischen Geschichte weiterverarbeiten: Wir fassen die Zusammenfassung zusammen ;0)), denn der Rahmen dieses Beitrags lässt leider keinen intensiveren Exkurs zu.
Wir entnehmen der Beschreibung von Dik Linthout einige charakteristische Elemente dieser historischen Zeiten:
… Waldreiches, mooriges Land,
… die Grafen von Holland, die im 12. Jhdt. einen Urbarmachungsvertrag (cope) der Moorgebiete mit Bauern schlossen, wodurch diese Bauern als freie Bauern ein eigenes Verantwortungssystem entwickeln konnten;
… feindliche Natur, vor allem das Meer, das Zusammenhalt der Menschen erzwang
… aber auch hilfreiche Natur, die beispielsweise die Horden reisender adeliger Hofgesellschaften und Ritter an jedem Entwässerungsgraben aufs unangenehmste behinderte
… Grafen, Herzöge und Bischöfe in den umliegenden Grafschaften und Provinzen, die sich mit freien Bauern und später auch mit freien Städten arrangieren mussten;
… humanistisches Gedankengut, das einen Erasmus von Rotterdam (ca.1466 – 1536) hervor brachte
… egalitäre calvinistische Glaubenssätze (etwa ab 1558), in denen Fleiß und reicher Lohn für geleistete Arbeit nicht abwegig schienen; dazu gehörig religiöse Lebenseinstellungen, in denen nicht die Gläubigen für den Prediger da waren, sondern der Prediger für die Gläubigen;
… ein Land so starker Charaktere, dass sich zwischen 1577 und 1588 zwei Fürsten und zwei Könige dem Angebot verweigerten, Herrscher der sieben Provinzen zu werden (Gelderland, Holland, Zeeland, Utrecht, Friesland, Overijssel und Groningen), so dass diese mit Drenthe (ohne eigenes Stimmrecht) im Jahr 1588 die Republik der Vereinigten Niederlande ausriefen und ihr eigener Souverän wurden (Generalstaaten). Sie bauten erfolgreich Handelsbeziehungen mit der ganzen Welt auf, besaßen reiche Kolonien und sammelten im goldenen Zeitalter (17. Jh.) unermessliche Reichtümer an.
Aus diesen einmaligen Zutaten entwickelten sich
Stärke, Gleichheit, egalitäre Prinzipien,
Toleranz gegenüber Andersdenkenden und
eine Konsensgesellschaft,
die sich fest im Selbstverständnis der Menschen verankerte,
… und die dann mehrere hundert Jahre später, im 19.Jh., das fiets für sich entdeckte
wobei übrigens bis 1966 rijwiel statt fiets die offizielle Bezeichnung in den Niederlanden war. (Zur Herkunft des Wortes gibt es ganz unterhaltsame Meinungsunterschiede https://nl.wikipedia.org/wiki/Fiets).
Für den Brückenschlag zum Hier und Jetzt ziehen wir wieder die o. g. Antrittsvorlesung von Prof. Dr. Kuipers hinzu und zitieren eine Passage (S.8):
„Ein wichtiger Grund für die breite Akzeptanz des Fahrrads liegt darin, dass die Niederlande eine homogene und stark integrierte Nation sind, in der die obere Mittelkasse dominiert und es, was die Macht betrifft, wenig Abstand zwischen den Klassen gibt. Dadurch gibt es wenig bewusste Statusdarstellung und von alters her herrscht ein Statuswettbewerb eher in Form von auffälligem Nicht-Konsum. Die Elite konnte sich wegen des geringen Abstands zu anderen Klassen nur wenig Prunkverhalten erlauben. Diese Abkehr von Statusdarstellung wurde von den anderen Klassen übernommen. Das Fahrrad ist ein preiswertes, nüchternes und einfaches Fahrzeug, dessen Fahrer alle Arbeit selbst erledigt. Radfahren lässt sich auch kaum mit körperlichen Statusornamenten wie stilvoller Kleidung kombinieren. Und das Fahrrad wurde nicht nur zum Verkehrsmittel für den Mittelständler oder den Arbeiter, der ein wenig besser gestellt war, sondern auch der Honoratioren. Stärker noch: bequemere Alternativen als ein Moped gelten als fehl am Platz.
Das Fahrrad macht aus Gewohnheit den Unterschied. Bilder von Rad fahrenden Mitgliedern des niederländischen Königshauses sind deshalb ein interessantes Abbild niederländische Statuspolitik. So erhalten die Bilder `unseres Königshauses` eine starke symbolische Bedeutung. Das Fahrrad ist ohnehin ein starkes nationales Symbol. Auch Vertreter der Wirtschaft, wie die Firma Gazelle mit ihrem Reklamehelden Piet Pelle, benutzten das Fahrrad schon früh, um an ein niederländisches Wir-Gefühl zu appellieren.
Natürlich gab es gewisse Voraussetzungen: kompakte Städte, flaches Land, ein passendes Klima. Wichtiger aber: Im Lauf der Zeit entstanden immer mehr Randbedingungen, die das Radfahren unterstützten, ein immer dichter werdendes Netzwerk von Institutionen und Übereinkünfte rund ums Fahrrad, von städtebaulichen Standards und juristischen Regelwerken bis hin zu einem Ausgehverhalten, das in Radfahr-Abständen organisiert ist. Das Fahrrad beeinflusste auch andere Entwicklungen. Beispielsweise dass es relativ wenig übergewichtige Menschen gibt. Und ich wage zu behaupten, dass, wenn es das Fahrrad nicht gegeben hätte, Amsterdam genauso wie andere ordentliche Städte, längst eine Metro hätte.
Aber das Wichtigste beim Entstehen eines Habitus: diese Gedankenverbindungen und Hintergründe sind für den niederländischen Radfahrer größtenteils bedeutungslos. Es gibt ein System von Gewohnheiten und Gebräuchen, das als selbstverständlich angesehen wird und an dem jeder teilhat. Man nimmt einfach das Fahrrad. Jeder fährt Rad. Man wüsste gar nicht, wie es anders gehen sollte. In Städten ist die Einheit die Fahrradminute und das sogar in den Prospekten von Maklern. Die Entstehungsgeschichte ist in Vergessenheit geraten – denn Radfahren ist zur zweiten Natur geworden.“
Interessieren Sie sich für eine ganz seltene Spezies? Ganz ur-niederländisch?
Rad fahrenden Honoratioren und Regierungsmitglieder?
Deren Fahrgewohnheiten und einige Zahlen fanden wir in der Doktorarbeit von Radoslaw Lesisz: Honderd jaar fietsen in Nederland 1850 – 1950. Over het begin van de fietscultuur. Universität Warschau, Erasmus-Lehrstuhl für niederländische Philologie, 2004. (Hundert Jahre Radfahren in den Niederlanden 1850 – 1950. Über den Beginn der Radfahr-Kultur.)
Als Download unter http://fietspadenstichting.nl/honderd%20jaar%20fietscultuur.pdf
Das Sprichwort Doe maar gewoon, dan doe je al gek genoeg (Sei einfach normal, dann bist Du schon sonderbar/ verrückt genug) ist wahrscheinlich calvinistisch-bescheiden gemeint und im Denken der Niederländer so fest verankert. Deshalb üben sich auch Politiker und andere Personen des öffentlichen Lebens in offensichtlicher Bescheidenheit und fahren mit dem fiets zur Arbeit. Was zustimmend zur Kenntnis genommen oder kritisch beobachtet wird.
Vielleicht lesen Sie dies …
https://www.fietsen.123.nl/pagina/fietsers-van-het-binnenhof (Anm. d. Red. 17.01.23: Seite nur noch eingeschränkt via web.archive.org zu erreichen)
oder
http://www.npogeschiedenis.nl/andere-tijden/afleveringen/2014-2015/Special–Schitterende-hoogmoed-in-de-Jaren–90/Regeringsleiders-op-de-fiets.html (Anm. d. Red. 06.02.23: Seite nur noch via web.archive.org zu erreichen)
Googeln Sie gern Bilder zu minister fiets nl
Wir möchten erinnern: im Jahr 2002 wurde der Politiker Pim Fortuyn auf dem Weg zu seinem Auto niedergeschossen und starb. Im Jahr 2004 fuhr der Regisseur Theo van Gogh auf seinem Fahrrad zur Arbeit, als er von einem fanatischen Attentäter mit Schüssen und Messerstichen ermordet wurde.
Spätestens seitdem ist auch in den Niederländern die Verletzlichkeit von Personen, die in der Öffentlichkeit stehen, sehr viel stärker bewusst. Wenn diese trotzdem weiterhin in der Öffentlichkeit mit dem Rad fahren, setzen sie in unseren Tagen ein Zeichen nicht nur für egalitäres Denken, sondern vor allem für persönlichen Mut…
Ähnlich aussagekräftig, wie das, was Sie vielleicht soeben gegoogelt haben, sind auch Auftritte der Königsfamilie auf Fahrrädern.
Bei Dr. Lesisz, auf S. 23, finden Sie in Abb. 16 historische Bilder: von Königin Wilhelmina und Königin Juliana – jeweils mit fiets. Königin Wilhelmina war die erste Radfahrerin der niederländischen Monarchie. Einer der Ministerpräsident während ihrer 50-jährigen Regentschaft (sein Name wird nicht genannt) verbot ihr das Radfahren unter Hinweis auf die damit verbundenen Gefahren. Königin Beatrix hingegen wuchs mit dem fiets offenbar selbstverständlicher auf, sie erhielt sogar den Beinamen „bicycle queen“
Es ist völlig okay, wenn Sie jetzt auch noch kurz beim heutigen König vorbei schauen wollen. Googeln Sie zur Entspannung mal Bilder zu Willem Alexander Maxima fietsen.
Genug gesehen?
Dann schauen wir jetzt, wie es sich darstellt, dieses Selbstverständnis der Niederländer im Gebrauch des Fahrrades.
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