Fietsend Nederland – Radfahrende Niederlande
Fietsen – wenn alte Liebe rostet
Niederländer überlassen es erstaunlich häufig dem Staat, die traurigen Reste ihrer kaputten Beziehung zu ihrem fiets zu beseitigen. Ganz sicher dann, wenn sie ihr fiets verstoßen …
Lange Wege ist es gefahren, ist weit herum gekommen, hat Wind und Wetter getrotzt, Herrchen/Frauchen tapfer getragen, wohin sie auch wollten, Einkäufe geschleppt, vor de kroeg (der Kneipe) oder de bioscoop (dem Kino) brav gewartet, hunderte von Kilometern zu Schule/Uni/Arbeitsstelle zurückgelegt, täglich hin und her, ein ganzes langes Fahrradleben lang!
Und dann das:
Ausrangiert, weggeschmissen, verlassen
Ein weesfiets (verwaistes Rad) ist ein Fahrrad, das im öffentlichen Raum abgestellt und über einen längeren Zeitraum nicht mehr benutzt wurde. Eigentümer/In ist unbekannt. Das kann schon mal passieren, meinen Sie?
Stimmt. In Amsterdam im Jahr 2010 etwas mehr als 30.000 Stück eingesammelt, 2012 mehr als 50.000, in 2013 knapp 65.000 und in 2014 holte die Stadt etwas mehr als 70.000 Räder aus Straßen und von Plätzen. Keine kleine Beziehungskrise also.
Ich hatte gelesen, der Amsterdamer habe drei Fahrräder – nur wisse er meist nicht, wo die gerade sind.
Weesfietsen gibt es aber auch in anderen Städten In Utrecht in 2013 ca. 25.000, in Den Haag in 2013 etwa 10.000 und in Rotterdam in 2013 etwas mehr als 10.000.
Je mehr weesfietsen, desto voller die Fahrradparkplätze, desto unliebsamer oder unmöglicher das Abstellen weiterer Räder … Weesfietsen stehen allen Plänen der Niederländer im Wege, das Radfahren noch attraktiver zu machen. Also entfernt man sie und das verursacht unnötige und hohe Kosten. Kosten wiederum verursachen Sparwillen und der wiederum führte zu einer Untersuchung darüber, wer, wo und warum ein Fahrrad einfach stehen lässt.
Man fand heraus, dass durchschnittlich 20% der fietsenstallingen (Fahrradstellplätze) an Bahnhöfen mit verwaisten Rädern belegt waren. Es gibt auch andere beliebte Entsorgungsweisen.
Im Amsterdam hat man allein etwa 10.000 weesfietsen aus den Grachten geholt. Und das sieht dann so aus …
https://www.youtube.com/watch?v=1gAiBu56myo
Foto aus dem Video Fietsen baggeren in de Amsterdamse grachten von ishootpeople Ferry de Kok 11.08.2014
(Wees weg heißt: mach, dass Du weg kommst. Vielleicht ist der Name in dieser Bedeutung gewissermaßen Programm.).
Die Veröffentlichung des Fietsberaad: Weesfietsen wie, waar, waarom (Verwaiste Räder wer, wo warum) aus 2012 kann man hier downloaden:
http://www.fietsberaad.nl/library/repository/bestanden/Fietsberaadpublicatie22_weesfietsen_wie_waar_waarom.pdf
Untersuchungen in Amsterdam, Utrecht und unter Alumni (Hochschulabsolventen) der dortigen Universitäten gibt kurz zusammengefasst folgende Antworten
Wer:
Meist höher gebildete Menschen im Alter zwischen 25 bis 35 Jahren
Wo:
Meist an Fahrradparkplätzen, oft am Bahnhof aber auch in den Wohngegenden
Weil es kaputt war
Weil ich nicht wusste, wohin sonst
Weil ich ein anderes/besseres Rad bekam
Weil es zu weit weg stand Weil ich den Schlüssel verloren habe Wie jemand anders es brauchen konnte Weil ich Arbeitsplatz/Uni gewechselt habe
sagten mehr als 70%
sagten mehr als 30%
sagten mehr als 10%
sagten knapp 10%
sagten ca. 5%
sagten weniger als 5%
(Mehrfachnennungen waren möglich und die Werte je Gruppe variierten etwas)
Auf die Frage, was einen veranlassen könnte, das Rad nicht einfach zurück zu lassen, gab es folgende Antworten:
Wenn das fiets für einen guten Zweck abgegeben wird
Wenn ich Geld fürs abgeben bekomme
Wenn das fiets zuhause bei mir abgeholt wird
Wenn man an jedem Bahnhof eine Abgabemöglichkeit hat
Wenn ich mehr Informationen darüber habe, wo man das fiets abgeben kann
Wenn ich eine eigene Abstellmöglichkeit hätte
Wenn es ein hohes Bußgeld gibt für das Zurücklassen kaputter fietsen
Wenn es ein hohes Bußgeld gibt für das Überschreiten der Abstelldauer.
Im Handboek weesfietsen (Handbuch für verwaiste Fahrräder), das man hier downloaden kann http://www.fietsberaad.nl/library/repository/bestanden/Handboek_weesfiets def.pdf stehen die Eckpunkte einer Problemlösung. Hier kurz die Abläufe:
Der Gemeinderat beschließt eine weesfietsen-Politik, legt die Fristen fest (maximale Stelldauer, Abholfristen) Kosten für Abholung, Vorgehen mit nicht abgeholten Rädern.
Dies wird veröffentlich.
Im öffentlichen Raum abgestellte Räder werden mit einem Kleberfähnchen markiert, auf dem steht, dass die Gemeinde weesfietsen künftige entfernt.
Räder mit solchen Fähnchen, die nach Ablauf der Frist noch an gleichen Ort stehen, werden mit Anhänger versehen, auf dem der Abholtermin angekündigt ist.
Nach Ablauf der Frist werden diese Räder dann eingesammelt, Schlösser und Ketten werden dafür geknackt.
Die Räder kommen in ein Sammeldepot. Dort werden sie begutachtet:
Rad hat nur die erlaubte Standzeit überschritten
Rad war gefährlich geparkt (Notausgänge, Ausgänge, Hydranten, Blindenleitsysteme, Straßenbahn-, Bus- oder Fahrbahnnähe)
Rad war falsch geparkt (außerhalb der angewiesenen Abstellplätze)
Rad hat mindestens 2 technische Defekte = weesfiets
Rad ist fahrtechnisch nicht wiederherstellbar = fietswrak
Fietswrakken
Egal, ob sich Gemeinden zusammenschließen oder einzeln das Problem anpacken, die Räder werden in einem Fahrraddepot registriert und für eine bestimmte Frist aufbewahrt. Dort kann der Eigentümer gegen Nachweis sein Rad abholen, bisweilen kostenlos (um einen Bußgeld-Effekt zu vermeiden), aber es werden auch Preise von 10 Euro und mehr verlangt.
Die Mehrzahl der Räder wird allerdings nicht abgeholt, weil ihre Eigentümer sie für gestohlen halte, weil sie das Weesfietsen-Vorgehen ihrer Gemeinde nicht kennen, das Depot zu weit weg, das Abholen zu teuer ist oder weil ein Junkie an der nächsten Ecke sowieso für ein Markenfahrrad 50 € verlangt und für ein altes Rad 5 bis 10 €. (S.28 des Berichts)
Nach Ablauf der Aufbewahrungsfrist werden bisweilen gemeinnützige Werkstätten mit der Reparatur beauftragt, auch die Arbeitsplätze in den Depots sind häufig Teil geförderter sozialer Projekte. Wer nachweisen kann, dass er Opfer eines Fahrraddiebstahls geworden ist, kann eines dieser Räder erhalten, andere werden an Organisationen gegeben, die gemeinnützige gesellschaftliche Ziele verfolgen oder sie werden in Entwicklungsprojekte außer Landes gebracht.
In einem Flüchtlingslager in Jordanien
Ziel der Weitergabe ist, den lokalen Fahrradhändler und Reparaturwerkstätten möglichst keine Konkurrenz zu machen. Diese hier brachte Bericht Minister Ploumen nach Jordanien.
Man stellt übrigens fest, dass sich unter den weesfietsen durchaus bis zu 15% Räder finden, die dem Händleraufkleber zufolge schon vorher als weesfiets aufgesammelt und überarbeitet worden waren.
Und es finden sich beim Sortieren im Depot auch solche, deren Rahmennummer einer Diebstahlmeldung zugeordnet werden können. Solche Fahrraddiebstähle sind besonders da ein Problem, wo fietsenstallingen so voll sind, dass man die Räder nicht an einem Halter festketten kann.
Auch hiergehören verschiedene Maßnahmen zur Förderung der fiets(er)cultuur:
Die Polizei greift inzwischen immer häufiger auf das lokfiets zurück, ein Fahrrad, das technisch präpariert ist und sich sogar mit GPS-Standort bei der Polizei meldet, wenn es bewegt (= gestohlen) wird. Erfolge lesen sich dann so …
(Mann aus Moordrecht nimmt Lock-Fahrrad der Polizei mit nach Hause)
In neuen fietsenstallingen findet sich immer häufiger die Registrierung des Eigentümers über seine pin card (EC-Karte), mit der er überhaupt erst Zugriff auf seinen Abstellplatz erhält.
Wir sind beeindruckt von all den pragmatischen Lösungen.
Dass auch mal gemogelt wird, fanden wir bei diesem Beweis für die Platzersparnis von Fahrrädern im Vergleich zu Autos so schön, dass wir es Ihnen nicht vorenthalten wollen:
De Partei GroenLinks hat offenbar diesen Vorschlag erdacht. Er läuft unter dem Titel Deeltijdparkeren op autoparkeerplaatsen (Teilzeit-Parken auf Autoparkplätzen) und es soll sich um geparkte vouwfietsen (Falträder) handeln. Wir denken, dass von diesen immerhin 42 Klapprädern die innen geparkten 20 eher das Zeug haben, zu weesfietsen zu werden. Denn, mal ehrlich, egal ob Frauchen/Herrchen unter 35 oder drüber ist – die meisten weesfietsen beginnen ihren Leidensweg wahrscheinlich, weil Herrchen/Frauchen einfach nicht mehr an sie dran kommt, wegen all der anderen Räder – und nicht etwa aus mangelnder Liebe …
Crow fietsberaad – mit einem Beitrag aus 2010 über Pläne der Partei GroenLinks
Unsere Schnuppertour durch die offizielle Seite der fiets(er)cultuur hat uns ein wenig schlauer gemacht zu der Frage, was fiets(er)cultuur ist, was sie so reibungslos, verlässlich, bequem, angenehm, einzigartig niederländisch, zukunftstauglich – und in anderen Ländern so begehrt macht.
Das alles und noch viel mehr läuft im Hintergrund ab – von uns völlig unbemerkt, während wir wunderbar entspannt, fast regellos frei und auf wolkengleich bequemen Radwegen von terrasje zu terrasje fietsen …
… während unsere niederländischen Nachbarn ganz selbstverständlich und ganz alltäglich ihre Milliarden Fahrradkilometer er-radeln …
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