Fietsend Nederland – Radfahrende Niederlande
Fietsen – in guten und in schlechten Zeiten
Englische und französische Anregungen
Das Fahrrad war viele Jahre lang technisches Experimentierfeld für Ingenieure und Tüftler. Das legt Dr. Radoslaw Lesisz ausführlich dar in seiner Doktorarbeit: Honderd jaar fietsen in Nederland 1850 – 1950. Over het begin van de fietscultuur. Universität Warschau, Erasmus-Lehrstuhl für niederländische Philologie, 2004. (Hundert Jahre Radfahren in den Niederlanden 1850 – 1950. Über den Beginn der Radfahr-Kultur.) Als Download unter http://fietspadenstichting.nl/honderd_jaar_fietscultuur.pdf
Und es hatte lange Zeit als Lieblingsspielzeug für Aristokraten und Dandys gedient. Etwa ab 1870 kam dann ein schon recht gebrauchstaugliches Fahrzeug aus Frankreich und England in die Niederlande.
Auch hier waren begüterte Bürger mit fortschrittlichem Denken und sportlichem Lebensstil die ersten wirklichen Interessenten. Bis 1890 blieben Fahrräder Luxusartikel. Die wachsende Zahl der Mitglieder im neu gegründeten Allgemene Nederlandse Wielrijdersbond (ANWB) legt aber die Vermutung nahe, dass „etwa seit 1890 – 1894 das Fahrrad nicht länger ein Spielzeug der Reichen war.“ (Lesisz, S. 21), erst mit der Einführung einer Fahrradsteuer entstanden dann systematische Zahlen.
Als Beleg für die Bedeutung des Fahrrades als volksvervoermiddel (Volksverkehrsmittel) nennt Dr. Lesisz (S. 21 u. 22) einige dieser Zahlen.
1899 | 100.000 Fahrräder in den Niederlanden ca. 1 Rad pro 53 Einwohner |
1899 bis1904 | Zahl der Fahrräder in unteren Einkommensklassen stieg um 250% Zahl der Fahrräder in den mittleren Einkommensschichten stieg um 160% Zahl der Fahrräder in den oberen Einkommensschichten stieg um 80% Zahl der bakfietsen (Transportfahrräder) bei den Ladenbesitzern stieg um 115% |
1906 | 1 Rad pro 17 Einwohner |
1908 | 1 Rad pro 13 Einwohner |
1912 | 1 Rad pro 10 Einwohner |
Grund für diese Zunahme war die wachsende industrielle Produktion der Räder und damit verbunden der sinkende Preis. Die preiswertesten Räder kosteten
1880 | Preis pro Fahrrad 250,- hfl | (Stundenlohn Arbeiter durchschnittlich: 0,19 hfl) |
1889 | Preis pro Fahrrad 90,- hfl | (Stundenlohn Arbeiter hochqualifiziert: 10,- hfl) |
1919 | Preis pro Fahrrad 55-70,- hfl | |
1930 | Preis pro Fahrrad 35-70,- hfl | (Durchschnittliches Jahreseinkommen der Bürger: 2.100 hfl) |
Spätestens ab diesem preislichen Zeitpunkt verlor das Fahrrad vollends seine Bedeutung als Statussymbol.
„Im Jahr 1916 betrug der Anteil der Fahrräder am Verkehr 75%, während Autos nur 4% davon ausmachten. Im Jahr 1928 hielten die Niederlande den ersten Platz unter den westlichen Ländern in der Kategorie `Fahrraddichte`.“ (Lesisz, S.22)
Anzahl der Fahrräder pro Einwohner im Jahr 1928 (Lesisz, S. 22-23)
Niederlande | 1 Fahrrad pro 3,25 Einwohner |
Dänemark: | 1 Fahrrad pro 4,75 Einwohner |
Deutschland: | 1 Fahrrad pro 5,80 Einwohner |
Frankreich: | 1 Fahrrad pro 6,00 Einwohner |
England: | 1 Fahrrad pro 7,10 Einwohner |
USA: | 1 Fahrrad pro 70,00 Einwohner |
Schon in Veröffentlichungen aus dem Jahr 1920 wurde die positive Wirkung des Fahrradfahrens auf die Gesellschaft betont (Lesisz, S. 27)
„Nach 1920 nahm die Benutzung von Fahrrädern enorm zu und veränderte die Mobilität der Gesellschaft. Die zahllosen Karren und Wagen verschwanden aus dem Stadtbild. Menschen erreichten weiter entfernt liegende Orte, zu denen der Weg bisher zu teuer oder zu zeitraubend gewesen war. Straßenbahnen waren noch ein exklusives Verkehrsmittel und der Busverkehr, der sich während des ersten Weltkrieges entwickele, konkurrierte in erster Linie mit den Eisenbahnen, nicht mit dem Fahrrad. In Städten wie Amsterdam, Eindhoven oder Enschede war die Anzahl der Fahrräder am Verkehr sehr hoch: 80 – 90%. Die unbedeutende Rolle von Bussen und Straßenbahnen musste man im Fall von Amsterdam der dichten Bebauung zuschreiben. Andere Städte waren zu klein und zu arm, um einen guten öffentlichen Verkehr zu entwickeln.“ (Lesisz, S. 30)
Unternehmer profitierten davon, dass Mitarbeiter aus weiterem Umkreis per fiets zur Arbeit kommen konnten, denn Wohnungen und Infrastruktur um die Betriebe herum ließen sich nicht beliebig schnell an den großen Arbeitskräftebedarf anpassen. Weiter entfernte Schulen und Ausbildungsstellen waren plötzlich mit dem Fahrrad erreichbar, so dass auch berufliche Vielfalt und Qualität für größere Zielgruppen zugänglich wurden (Lesisz, S. 17).
Im Jahr 1939 gab es 3,7 Mill. Fahrräder in den Niederlanden und 100.000 Autos. Die Zahl der Unfälle stieg besorgniserregend, das Fahrrad kam in den Ruf, ein unsicheres Verkehrsmittel zu sein, denn die Radfahrer galten als undisziplinierte, unberechenbare und ungeübte Verkehrsteilnehmer, die den schnelleren Verkehrsfluss deutlich behinderten. Da es keine Fahrradpolitik gab, war dies nicht weiter verwunderlich. Entsprechende Gesetzeswerke mussten erst erarbeitet und politisch durchgesetzt werden. Dazu bringt Dr. Lesisz lesenswerte Details, die hier aber leider zu weit führen würden.
Die Produktion von Autos und ihre Anzahl im Straßenverkehr nahmen schnell zu – die Produktion und Anzahl von Fahrrädern im Straßenverkehr aber weitaus stärker. (Lesisz, S.30)
Nazideutsche Machtgier
Während des 2. Weltkriegs ging die Zahl aller Transportfahrzeuge stark zurück. Grund waren Verordnungen der nazideutschen Besatzung und später zudem der Mangel an Ersatzteilen (z.B. Fahrradreifen ab 1941 nur auf Bezugsschein).
Bitte anklicken für die Übersetzung
Dass nazideutsche Besatzungssoldaten dieses alltagsnotwendige Eigentum konfiszierten, griff – neben der Enteignung und Demütigung – sehr tief in den Lebensalltag der Menschen ein.
Man sagte uns, die Räder wurden per Eisenbahn zu den Soldaten im Russlandfeldzug transportiert, die mit Gepäck und Waffen per Fahrrad schneller vorankommen sollten. Googeln Sie den Begriff „Fahrradschwadronen“ und man sieht, dass das durchaus glaubhaft ist.
Ein schreckliches Kapitel in der Beziehung zu unseren Nachbarn. Und in diesem Beispiel einer nazideutschen Verordnung ging es „nur“ um Fahrräder.
„Infolge der wirtschaftlichen Lage blieb das Verkehrsmodell aus Vorkriegszeiten viele Jahre nach dem 2. Weltkrieg erhalten. Im Jahr 1947 benutzten mehr als die Hälfte aller Pendler das Fahrrad, wohingegen nur 5% mit dem Auto fuhren. Ab den Fünfzigerjahren aber begann das einst so sehr begehrte Fahrrad, seinen früheren Status als Basisverkehrsmittel schnell einzubüßen. Die Zahl der PKW nahm stark zu und überschritt die Hunderttausend. Damals gab es Fachleute, die glaubten, das Fahrrad würde in kürzerer Zeit aus dem Stadtbild verschwinden.“ (Lesisz, S. 31).
„Die allgemeine Benutzung von Zweirädern in den Niederlanden der 20er und 30er Jahre sorgte für das positive Image von Radfahrern und eine allgemeine Akzeptanz dieses Verkehrsmittels auch in Zukunft, was in anderen Ländern heutzutage offenbar ein großes Problem zu sein scheint. Die niederländische Fahrradtradition passte sehr gut zur Wiederentdeckung des Fahrrads in den Siebzigerjahren. Seitdem sind Fahrräder positiver angesehen.“ (Lesisz, S. 23)
Das Bild stammt aus dem Beitrag BBC News:„Why do so many Dutch people cycle” (Warum fahren so viele Niederländer Rad?), August 2013, den Sie unter https://www.youtube.com/watch?v=Lceg9Md9sTI ansehen können
Britische Bewunderung
In den Niederlanden der Nachkriegszeit gaben Wohlstand und neue Anforderungen an die Mobilität die neue Richtung der Verkehrspolitik vor. Was sich damals in den Niederlanden ereignete ist heute für die umweltbewussten unter den Briten ein wichtiges Vorbild. In die englische Sprache finden Begriffe Eingang wie „Dutch style roads“ (das sind Straßen mit separatem Fahrradweg) oder „Dutch cycling“ (das ist sicheres Radfahren in einem sicheren und qualitativ guten Radwegenetz) und BBC News brachte ab 2011 eine Reihe von sehr informativen Berichterstattungen. Googeln Sie bitte Videos zu den Stichworten BBC News Dutch cycling.
Hier https://www.youtube.com/watch?v=XuBdf9jYj7o (Titel „How the Dutch got their Cycle Paths“ Wie die Niederländer zu ihren Radwegen kamen) finden Sie eine detaillierte und bebilderte Erklärung für den Wandel, der in den Niederlanden in Denken und Politik in den 70er Jahren stattfand und der den Briten heutzutage so einleuchtend vor Augen geführt wird. Ich habe Ihnen den Text des Sprechers übersetzt.
Der Button mit dem britischen meisje (Mädchen) führt Sie hin
(Das Bild stammt aus dem Beitrag der BBC News London: `Mayor urged by cyclists to look to the Netherlands`. (Bürgermeister von den Radfahrern gedrängt, Richtung Niederlande zu schauen) 10.06.2012. Sie können ihn ansehen unter https://www.bbc.com/news/uk-england-london-18386917).
Für alle Nicht-Klicker zumindest eine kurze Zusammenfassung dieses Berichts:
„Städte hatten Probleme, weil sie mit dem ständig zunehmenden Verkehr überfordert waren, was zu Abriss führte und zu öffentlicher Entrüstung darüber, wie viel Platz dem motorisierten Verkehr eingeräumt wurde.
Es gab eine unerträglich hohe Zahl von Verkehrstoten, was ebenfalls zu Massenprotesten führte, eine Ölkrise und eine Wirtschaftskrise, die zu Benzinknappheit und hohen Energiekosten führte.
Die Lösung fand sich aus dem Willen der Öffentlichkeit heraus, dass auf nationaler politischer und regionaler Ebene sowohl von den Entscheidungsträgern als auch von den Planern ein Wandel der Verhältnisse erreicht werden musste, weg von der autozentrierten Politik hin zu alternativen Verkehrssystemen wie dem Fahrrad. Radfahren ist heute ein fester Bestandteil der Verkehrspolitik.“
Niederländischer Alltag
Was geworden ist, aus dieser neuen niederländischen fiets-Politik? Schauen wir doch mal kurz in Utrecht vorbei. Das neue Bahnhofsgelände mit 12.500 Fahrrad-Parkplätzen wird bis 2018 fertiggestellt sein. Unter diesem Link können Sie wunderbar virtuell nachvollziehen, was gebaut wurde und ablesen, welchen Stellenwert das fiets besonders in der städtischen Verkehrspolitik hat – und welchen das Auto … suchen Sie mal … https://www.youtube.com/watch?v=ynIRAhoqoBc .
Es sind genau solche konkrete Planungserfahrungen, die sich auf andere Orte und Gesellschaften übertragen lassen.
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