Fietsend Nederland – Radfahrende Niederlande
Fietsen – nicht immer lebensverlängernd
Unfallfrei mit dem Fahrrad zu fahren ist eine Kunst, zumal wenn man dabei etwa 16,3 Mrd. Kilometer er-radelt (2014).
Im Jahr 2013 starben im Verkehr 570 Menschen (1972 waren es 3.300), davon 184 Radfahrer. Unter Berücksichtigung der Kilometerleistung im Jahr liegt bei Radfahrern das Risiko eines tödlichen Unfalls 8 x so hoch, wie das eines Autofahrers.
Von den 20.100 Schwerverwundeten im Jahr 2011 waren 60% Radfahrer. Bei etwa 5 von 6 Schwerverletzten Radfahrern war kein Motorfahrzeug in den Unfall verwickelt.
Quelle: Ministerie van Infrastructuur en Milieu: Mobiliteitsbeeld 2014, S. 54.
Der Gesetzgeber beschützt Fußgänger und Fahrradfahrer auf besondere Weise, da sie als “schwache Verkehrsteilnehmer” gelten. Bei einem Unfall zwischen einem motorisierten und einem nicht-motorisierten Verkehrsteilnehmer ist die Beweislast umgekehrt. Zum Nachteil des Motorisierten! Er wird zunächst als der zu 100% Schuldige an solchen Unfällen angesehen und muss beweisen, dass er alles getan hat, um einen Unfall zu vermeiden. Das bedeutet, er muss nachweisen, dass der Unfall überhaupt nur durch besonders grob fahrlässiges Verhalten des Radfahrers geschehen konnte.
In solch einem Fall kann ein Richter eine Schadenaufteilung erwägen. Die Mindestschuld bei Unfällen mit den besonders schutzbedürftigen Verkehrsteilnehmern beträgt aber immer mindestens 50%.
Das ist ein schwieriger Balanceakt, wie man sieht:
Dagblad de Limburger (DDL) am 08.07.2015:
(Radfahrer ohne Licht bekommen nur selten eine Strafe)
Der Autor Peter Wintermann schreibt, die Zahl der Bußgelder bei Fahrrädern ohne Licht ging von 73.008 im Jahr 2011 auf 44.316 im Jahr 2014 zurück. Die Zahlen variieren von Gemeinde zu Gemeinde, in Amsterdam und Rotterdam ging die Zahl stark zurück, in Den Haag stieg sie hingegen an. In fünfzehn Gemeinden wurde sogar jeweils nicht eine einzige Geldbuße verhängt.
Da das Ministerium für Infrastruktur und Umwelt aus Untersuchungen weiß, dass konstant etwa 40% der Radfahrer unbeleuchtet fahren, bekommt das folgende Zitat aus dem Beitrag eine besondere Bedeutung:
„`Normale Polizeibeamte haben keine Zeit mehr für leichte Verkehrsvergehen`, sagt Spee, `Nach ein paar Jahren tritt eine Verhaltensänderung ein: Radfahrer wissen, dass sie nicht erwischt werden und dann machen sie das Licht nicht mehr an.`“
55 Euro kostet übrigens im Jahr 2015 das Radfahren ohne Licht, eine Liste weiterer Vergehen mit Bußgeld können Sie sich über den rücklichtslos–Button er-klicken.
rücklichtslos
Und hier ein Leserbrief zum obigen Artikel, in dem die motorisierte Seite des Balanceaktes zu Wort kommt.
Dagblad de Limburger (DDL), Leserbrief von Ton Otten vom 13.07.2015:
„Absurd
Wann tut man etwas an der absurden Situation mit der Schuldfrage bei Unfällen mit Fahrradfahrern. Fahrradfahrer (Ausnahmen gibt es) bewegen sich auf höchst unverantwortliche Weise durch den Verkehr. Sie sitzen auf ihren Rädern mit lauter Musik in den Kopfhörern, das Telefon in den Händen um mal schnell per WhatsApp oder sms zu schreiben. Richtungswechsel angeben geht nicht, selbst wenn sie es wollten. Geräusche des übrigen Verkehrs dringen nicht zu ihnen durch wegen des Discolärms in ihren Ohren. Wenn man konzentriert auf das Telefon guckt, kann nicht auf die Situation drum herum achten. Der Autofahrer, der ein Telefon in der Hand hält, wird mit einem Bußgeld von 240 Euro bestraft. Autofahrer werden auch angewiesen, die Lautstärke des Radios zu dämpfen. Gegen schlechtes Benehmen von Radfahrern wird fast nie eingeschritten. Laut Justizministerium hat das keinen Zweck, weil eine Kontrolle beinahe unmöglich ist. Dem früheren Stabsmitarbeiter Verkehrsrecht Koos Spee zufolge, ist die Chance groß, dass wegen der geringen Aussicht auf Verfolgung, die Anzahl tödlicher Verkehrsunfälle zunimmt. Meiner Meinung nach gibt es noch einen weiteren, mindestens ebenso schwerwiegenden Grund: Bei einem Unfall, an dem ein Autofahrer und ein Radfahrer beteiligt sind, ist der Autofahrer immer schuldig, selbst wenn ihn keine Schuld trifft. Bei jungen Radfahrern kann ich mir das noch vorstellen, aber bei Teenagern und Erwachsenen?“
Untersuchungen zum Gebrauch der Fahrradbeleuchtung gibt es in regelmäßigen Abständen. Veröffentlicht und zum Download finden Sie dies für 2012/2013 unter https://www.rijksoverheid.nl/documenten/rapporten/2013/02/22/lichtvoering-fietsers-2012-2013
Baumellampe
Die Zahlen sagen deutlich, dass die Beleuchtung bei einer Vielzahl der Räder teilweise oder sogar völlig defekt ist.
Wir haben gelesen, dass in Amsterdam das nächtliche Publikum zwischen 23 Uhr und 3 Uhr nur zu 14% das Fahrradlicht einschaltet/überhaupt einschalten kann.
In den untersuchten Stadtteilen in Amsterdam haben ohnehin nur 41% Vorder- und Rücklicht, in ländlichen Gegenden steigt dieser Anteil. Lesen Sie die Seiten 14 bis 20 der Veröffentlichung – und fahren Sie vor allem v o r s i c h t i g. Auch fietser können unbeleuchtete fietser schon mal übersehen …
Eine unkonventionelle Problemlösung gefällig?
Sebastiaan Van Loosbroek, am 5. Oktober 2015 in der Zeitung De Volkskrant: Horeca verschaft verlichting aan fietsers (Gaststätten geben Radfahrern Licht).
„In Kneipen kann man demnächst nicht nur Getränke bestellen sondern auch Fahrradbeleuchtungen. Auf Anraten des Fietsersbond werden so viele Gaststätten wie möglich Fahrradlämpchen an den Mann bringen, die Kneipengänger an ihren Jacken befestigen können, damit sie sicherere nach Hause kommen. Man kriegt eines für den Preis eines Biers (2,50€).
Untersuchungen u.a. von A N W B (seit 1905 heißt er Koninklijke Nederlandse Toeristenbond) B O V A G (Bond van Auto(mobiel)handelaren en Garagehouders) und F i e t s e r s b o n d unter etwa sechstausend Radfahrern zeigen, dass 59% des niederländischen Ausgeh-Publikums ohne Licht hin zur Kneipe und zurück radelt. Amsterdamer tun das besonders ausgiebig: 82% des Ausgeh-Publikums hat kein Fahrradlicht.”
Und noch eine?
Der amerikanische Autor Pete Jordan schrieb das Buch De fietsrepubliek. Podium Verlag, Amsterdam, 2013. (Originaltitel: In the City of Bikes. The story of the Amsterdam cyclist. Harper Perennial, New York, 2013) Die Journalistin Hilde Pach hat ihn für das Magazin `Moving People` (Ausgabe April 2014, S. 14-15) interviewt und schreibt:
„In letzter Zeit wird in Amsterdam viel über rücksichtsloses Fahrverhalten von Radfahrern geklagt. Jordan findet das nicht so dramatisch, `Solche Klagen hat es immer gegeben. Aber jeder weiß, wann man sich wirklich an die Regeln halten muss. Die Gemeinde tut auch immer mehr, um die Stadt fahrradfreundlich zu machen`. Klagen über Touristen, die die Radfahrer behindern oder mit ihren Mietfahrrädern die Stadt unsicher machen, kennt Jordan natürlich auch.“ (ibid. S.15)
Download des Artikels? Bitte sehr: https://hildepach.nl/wp-content/uploads/2014/03/Moving-People-april-14-8.pdf
Das regelt sich also alles selbst, weil ja alle wissen, “wann man sich w i r k l i c h an die Regeln halten muss“.
Riecht ein kleinwenig anarchistisch? Zumindest nach echter Freiheit in ihrer pragmatischen Form?
Wir spurensuchende Schreibtischtäter vom Team www.hemelse-modder.de möchten lieber nicht einer dieser „gefährlichen“ Fahrradtouristen sein oder vielleicht sogar erleben, dass ein `Fahrradprofi` aus Amsterdam mal doch nicht so ganz gewusst hat, `wann man sich wirklich an die Regeln halten muss` …
Wir bringen uns lieber in Sicherheit und brauchen auf diesen wohlig-pragmatischen Grusel hin was Süßes. Und wenn wir schon in Amsterdam sind, dann lassen wir uns eine Portion Hemelse Modder im Restaurant Hemelse-Modder. Adresse: Oude Waal 11 (reservieren bitte – und Grüße von uns ausrichten!! https://www.hemelsemodder.nl/)
Aber wieder ernsthaft: Wir zeigen Ihnen eine Momentaufnahme aus einer laufende Debatte fiets(er)cultuur im Alltag. Wir, die wir von weit her anreisen, sind dann leider meist in der Rolle der motorisierten Verkehrsteilnehmer. Also sorgsam und aufmerksam fahren, besonders weil lebhafter Fahrradverkehr sehr viel Konzentration braucht.
Ein ganz wichtiger Hinweis gehört unbedingt zum Thema:
Niederländische Polizei und Verkehrsexperten tun wirklich intensiv alles, um Unfällen zuvor zu kommen, aus Geschehenem zu lernen und Gefahrensituationen zu beseitigen!
Auch dafür noch ein Beispiel:
Wir alle kennen die vergebliche Diskussion über den toten Winkel in den Rückspiegeln von LKW.
Wo man die Halter der LKW nicht veranlassen kann, lebensrettenden Spiegel anzubringen, ist dies hier eine lebensrettende niederländische Lösung: ein Weitwinkel-Spiegel an der Ampel. Angebracht wegen eines Unfalls, der sich dort ereignet hatte. Nach intensiven Untersuchungen und dem Durchspielen mehrerer Lösungsansätze.
Verkehrsampel mit einem Spiegel, der Rechtsabbiegern den Verkehr im „toten Winkel“ sichtbar macht
Das Foto haben wir gefunden im Film von Martine Powers, The Boston Globe: `Cyclists are kings of the road in the Netherlands`
vom 23.09.2013 (Radfahrer sind die Könige der Straßen in den Niederlanden).
Sie können ihn über diesen Link komplett ansehen: https://www.youtube.com/watch?v=uiesCzZlXKY
(Anm. d. Red. 04.12.17: Dieses Video wurde vom Benutzer entfernt)
Übrigens zeigen Statistiken, dass die Zahl der Unfälle mit Radfahrern proportional umso stärker zurückgeht, je mehr mit dem Rad gefahren wird. Bericht des Fietsersbond: Meer fietsen met minder risico (Mehr Radfahren mit weniger Risiko).
http://media.fietsersbond.nl.s3.amazonaws.com/documenten/Meer_fietsen_met_minder_risico_rapport_oktober_2010.pdf
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