Die Straßen der Sjermensen
In antiken Sagen und auch in heutigen Märchen liest man, dass Menschen versteinern oder mit einem Zauberschlaf gebannt werden. Wem dies widerfährt, der bleibt als ewiges Sinnbild des Schicksalhaften zur Reglosigkeit verdammt – oder er muss erlöst, erweckt, aufgeweckt, befreit werden – natürlich durch Jemanden, der dabei mit viel Mut, Klugheit und Liebe zu Werke geht.
Könnte das alles nicht ein großer Irrtum oder ein riesiges Missverständnis sein?
Das frage ich mich, seit mir im Land des Hemelse Modder die Sjermensen begegnen. Fast wie im Märchen lebt nämlich in der Provinz Limburg ein freundlicher Zauberer, der die Sjermensen erschafft. Er schenkt ihnen die Reglosigkeit, in der sie ewig jung, ewig freundlich, begeistert oder beschäftigt sein dürfen.
Dürfen? Müssen?
Het meisje met de gouden handen, Stadspark Karthuis, Roermond
Wäre ich eine Märchenerzählerin, könnte ich Sjermensen vielleicht aus ihrer Reglosigkeit befreien, wenn ich nur hinter das Geheimnis ihrer Existenz käme …? Ich würde zugegebenermaßen ganz egoistisch auf jegliche Befreiungsaktion verzichten, weil die Sjermensen in den Straßen mich mit einer stillen Freude erfüllen. Daran möchte ich Sie an dieser Stelle teilhaben lassen.
Het schip (Vorderseite und Ausschnitt Rückseite), Maasstraat, Steyl
Die freundlich winkende Mevrouw Sjermens beispielsweise, eine Figur aus der Gruppe Burgers van Vlodrop (Gemeente Roerdalen) wurde leider nicht im märchenhaften Sinne befreit sondern von Bronzedieben gestohlen, ebenso wie ihre Verwandte, die eigentlich nur kurz hatte einkaufen wollen
Burgers van Vlodrop (Gemeente Roerdalen)
Meine persönliche Favoritin ist übrigens die lässige Mevrouw Sjermens vom Munsterplein in Roermond. Sie und zwei männliche Verwandte genießen aus vollem Herzen den Platz, den Mathieu Koch, der Roermonder Kunstfotograf, als „t sjoonste haof van Remunj“ (der schönste Platz von Roermond) bezeichnete, eine Einschätzung, der ich aus ganzem Herzen zustimme …
Mevrouw Sjermens, Munsterplein, Roermond
Sjermensen sind nicht einfach ausdrucksstarke Figuren, sie sind Ausdruck einer Lebensart, die anspricht, neugierig macht und im Kopf spannende Gedanken in Gang bringen kann..
Ihr Schöpfer, Sjer Jacobs, ist ein bekannter bildender Künstler mit einer unerschöpflichen Vorstellungs- und Schaffenskraft, handwerklich genial, hintersinnig und in beeindruckender Vielfalt ausdrucksfähig. Schauen Sie selbst. www.sjerjacobs.nl und genießen Sie auch, daß Sie über seine Webseite weitere interessante Künstler entdecken können.
Ich möchte hier aber nicht seine Popularität steigern sondern den Ausdruck seiner Kreativität als Teil der limburgischen Lebensart vorstellen und etwas von dem zeigen, was uns in den Straßen von Limburg, aber auch in Galerien, in Firmenkantinen, Eingangshallen oder Wohnvierteln begegnen kann – und vielleicht an einem Beispiel erklären, wie es dazu kommt
Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers möchte ich deshalb aus dem Buch Sjer Jacobs. Het werk verzameld. Tegelen, 2009, ein Zitat des Schriftstellers Kees Verbeek übersetzen (S.122), der uns Sjers Werke in Worten erläutert und nahe bringt.
„Als im Jahr 1974 ein Bauer im chinesischen Xi`an einen Brunnen bauen will, stößt er auf eine Terrakottafigur. Es scheint sich um einen Krieger zu handeln. Eingehende Untersuchungen bringen einen erstaunlichen archäologischen Fund ans Tageslicht. Der Krieger ist offenbar Teil einer mehr als 4000 Mann zählenden Armee von Fußsoldaten, Offizieren, Generälen, Pferden und Streitwagen – alle lebensgroß und aus Terrakotta geschaffen – beim Grab des Quin Shi Huang, der im Jahr 221 v. Chr. im Alter von vierzehn Jahren als erster Kaiser der Chinesen den Thron bestieg. Ein Teil des Kriegsvolkes marschiert inzwischen als Sehenswürdigkeit um die Welt und biwakierte Anfang 2009 drei Monate lang in Maaseik.
In einem Gespräch mit Fons Exelmans von der Galerie Exelmans in Neeroeteren entsteht die Idee einer Ausstellung mit einer eigenen keramischen Armee.
Sjer: `Die Chinesen stehen stramm in Reihe und Glied. Sie halten Wacht. Das wäre bei mir nicht möglich. So wäre unsere Zeit nicht. Heutzutage ist Alles und Jeder in Bewegung. Unterwegs. Wer wird denn noch bei irgendetwas stillstehen? ´
Sjers Armee wird eine Gruppe von etwa 60 Figuren, Männer, Frauen, Kinder und Haustiere, die sich auf Rädern, Rollern, Skateboards, Mofas, Rollschuhen und Motorrädern in großer Eile einen Weg durchs alltägliche Leben bahnt.“
Mal ganz ehrlich: angesichts dessen, was da rollt, drängen sich mir persönlich durchaus stärkere Worte auf. Sehen Sie sich das an:
Möchten Sie diesem Knirps vor die Räder kommen? Ich halte das hier für ein radwütiges Fahrmaschinchen der unbeirrbarsten Art. Mit vollem Herzen dabei! Bin ich froh oder traurig darüber, dass er nicht davonradeln kann?
(Auf die Kunst des Radfahrens an sich kommen wir bei unserer Spurensuche übrigens an anderer Stelle.)
Der Knirps ist in der Familie Sjermens offenbar nur die Spitze des Eisberges …
Dieses Bild einer lustvoll rasenden, getriebenen Horde radwütiger Kreaturen zeigt noch immer nicht die ganze Wahrheit. Ein Panoramabild sowie Geschichten, die der Schriftsteller Kees Verbeek erdacht hat, finden Sie in dem Buch: Sjer Jacobs. Al wat rijden kann, rijdt. Tegelen, 2008.
Einige von ihnen sind übrigens immer noch in ihrem Geburtshaus anzutreffen und zwar in der Grotestraat 65a in Tegelen bei Venlo. Dort kann man sie auch freitags und samstags besuchen. Mehr unter www.sjerjacobs.nl
Die Ausschließlichkeit, mit der die Sjermensen ihren Lebensmoment erleben, verdanken sie der brillianten Beobachtungsgabe des Künstlers aber auch der Möglichkeit, im Land des Hemelse Modder herumzusitzen, zu stehen oder zu liegen, wie es ihnen behagt. Man versteht und liebt hier diese Kunstwerke, die mit Ernst und Hintersinn die Vorstellungskraft kitzeln.
In einem Neubauviertel in Baarlo treiben sich beispielsweise die Sjerkes rum …
Sjerkes in Baarlo. Ihre Haltung mag auf den ersten Bick eindeutig sein …
… aber hier hat alles seine zwei Seiten …
An Sjer Jacobs von hier aus zum Schluss eine Frage: haben Sie jemals das Böse im Menschen sehen, verarbeiten und darstellen müssen/wollen/können?
Neugierig geworden?
Vielleicht versuchen Sie mal, neben Mevrouw Sjermens am Munsterplein Platz zu nehmen und mit ihr ein kleines Zwiegespräch zu führen? Limburgs Lebensgefühl muss man an sich selbst erfahren.
Was halten Sie davon, sich auf den Weg zu machen zu unseren Nachbarn und selbst nachzusehen und zu fühlen? Hier nur ein Beispiel für eine inspirierende Strecke von ca. 3 km:
https://www.lustauflimburg.de/wandern/figurenwanderroute-baarlo (Anm. d. Red. 04.01.24: die ursprüngliche Seite ist offline; Link verweist aktuell auf https://www.visitnoordlimburg.nl/. Die Figurenwanderroute ist aber auch dort leider nicht mehr verfügbar!)
Wenn Sie dort den Button —Dieses Route drucken— benutzen, öffnet sich eine Karte, darunter eine Liste der Kunstwerke, die auf Sie warten, sowie eine Wegbeschreibung. Die ausstellenden Künstler sind Shinkichi Tajiri, Thomas Rodr, Mathieu Knippenberg, Wim Rijvers, Wjnand Zillmans, Joep Nicolas, Marin Wijnhoven, Jan Boon, Bea van Dorpe und Sjer Jacobs. Lassen Sie sich verführen …
Skulpturen zu besichtigen parkseitig am alten Waschplatz (l) und im Schlossgraben (r) in Baarlo
Neugierig auf Kunst in der Provinz Limburg? Dann googeln Sie doch bitte mal limburgse kunstenaars
Viel Freude dabei. Und vielleicht möchten Sie uns auf eine Ihrer Entdeckungen aufmerksam machen? Gerne per Mail an … community [at] hemelse-modder [dot] de
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