Fietsend Nederland – Radfahrende Niederlande
Fietsen – politische Feinarbeit
Es ist wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung: Weil die Niederlande schon einen so weiten Weg im Selbstverständnis als Radfahrernation zurückgelegt haben, verstärken sich positive Effekte, finden sich stichhaltige Argumente und setzen sich kluge Köpfe ein für neue, bessere und wirkungsvolle Maßnahmen zur Verbesserung des fietsclimaat (Fahrrad-Atmosphäre).
Fahrradpolitik als Teil der Verkehrspolitik beispielsweise …
Die fietsbalans (Fahrrad-Bilanz) beispielsweise ist ein gemeinsames Projekt von Gemeinden und dem Fietsersbond https://www.fietsersbond.nl/ , einem Verein mit etwa 33.000 Mitgliedern.
Die Fragestellungen:
Schafft die aktive Fahrradpolitik der Gemeinden auch ein goed fietsklimaat (gute Fahrrad-Atmosphäre)?
Wie beginnt man Fahrradpolitik auf Gemeinde-Ebene?
Wo gibt es Stärken und Schwachpunkte im gemeentelijk fietsklimaat (Fahrrad-Atmosphäre auf Gemeindeebene)
Wie man arbeitet, können Sie gern in einem Bericht nachlesen: http://www.fietsberaad.nl/library/repository/bestanden/Fietsbalans_II.pdf
Seit dem Jahr 2000 haben viele Gemeinden an einer ersten und einige Jahre später an einer zweiten Runde der fietsbalans teilgenommen. Die Fragenkreise und Aufgabenstellungen müssen sich alle nicht-niederländischen Fahrradfahrer auf der Zunge zergehen lassen:
„Bei einer Praxis-Messung mit einem Mess-Fahrrad wird die Qualität der Infrastruktur beurteilt hinsichtlich Direktheit, Komfort, Qualität des Fahrbahnbelags, Attraktivität und Konkurrenzsituation des Fahrrades im Vergleich zum Auto.
Mittels Feldbeobachtung wird an etwa 40 stark von Fahrrädern frequentierten Zielen untersucht, ob in den Hauptbetriebszeiten hinreichend Fahrradständer stehen, ob an den Fahrradständern gute Befestigungsmöglichkeiten vorhanden sind, ob sie an einem sinnvollen Platz zwischen Fahrradweg und Eingang stehen.
Zur Verkehrssicherheit für Fahrradfahrer, die Fahrradnutzung und zur Dichte der Gemeinde werden landesweite Datenbestände analysiert.
Die Zufriedenheit der Fahrradfahrer wird mit telefonischer Befragung ermittelt.
Die Fahrradpolitik wird untersucht mittels einer Befragung unter den Beamten mittels Durchsicht von Dokumenten zum Regelwerk.“
Quelle: Fietsersbond: Meer fietsen met minder risico. (Mehr Fahrradfahren mit geringerem Risiko). Utrecht, September 2010, S.5. Das Download finden Sie unter: http://media.fietsersbond.nl.s3.amazonaws.com/documenten/Meer_fietsen_met_minder_risico_rapport_oktober_2010.pdf
Es geht übrigens um Attraktivität der Gemeinden als Wohnorte, um geringe Unfallzahlen, geringen CO2-Ausstoß, um die Vermeidung von Kosten für Autostellplätze und Alternativen zum Durchsatz großer Automengen in Innenstädten … Man sieht eine solche fietsbalans nicht als lästiges Übel, sondern als Chance – und die wird intensiv genutzt. Ergebnisse werden gern in Netzdiagrammen dargestellt. Jede Stadt hat deutlich ihre eigenen Charakteristika.
Und einige Gemeinden sind von den Ergebnissen so überzeugt, dass sie inzwischen mit der fietsbalans-3 schon in die dritte Runde gehen.
Diese fietsbalans-scores (Fahrradbilanz-Bewertung) des Fietsersbond fanden wir in dieser PowerPoint-Präsentation, Seite 9. Zum Download unter http://www.nationaler-radverkehrsplan.de/transferstelle/downloads/for_o-02_radverkehrsqualitaet.ppt – (Link nicht mehr erreichbar)
slideplayer.org – (Alternativer Link)
Bevölkerungspolitik beispielsweise …
Unbeholfen radelnde Touristen sind ein wiederkehrendes eher saisonales Phänomen, Zuwanderer allerdings haben ganzjährig die Gelegenheit und das Problem, das Radfahren zu erlernen, zu üben und sich in dem nicht abreißenden Strom cooler, lässiger und schneller einheimischer fietser zu behaupten. Es gibt Programme, die die Menschen motivieren sollen, aufs Rad umzusteigen und es gibt Fahrrad-Fahrschulen, in denen man die Verkehrsregeln lernen kann. Das eigentliche Radeln muss jeder für sich dauerhaft üben, auch wenn es natürlich erste Anleitungen gibt. Googeln Sie gern Bilder zum Stichwort fietsles (Fahrradunterricht).
Den Vorsprung aufzuholen, den die Kinder des fiets(er)cultuur-Landes ab 3 Jahren herausradeln, ist so gut wie unmöglich. So zeigen Statistiken auch, dass es starke Unterschiede in der Nutzung der Fahrradinfrastruktur in Stadtvierteln gibt, in denen viele Zuwanderer leben. Das hat neben der Bevölkerungspolitik auch noch Auswirkungen auf Stadtplanung und Verkehrspolitik.
Wie ein typischer niederländischer fiets-Tag aussieht, hat der Fietserbond mit den Zahlen des Jahres 2007 sehr anschaulich beschrieben. Ein Klick auf den
Fietsen-steht-hoch-im-Kurs Button ;0))
und schon sind Sie bei der Übersetzung.
Wirtschaftspolitik – zum Beispiel für den Einzelhandel …
Wenn Verkehrskonzepte im bebauten Raum dem Fahrrad und den Fußgängern Vorrang geben, bedeutet das, dass Autos ausgeschlossen werden. Man kann ganz einfach das Autofahren unattraktiv machen mit langen Umwegen, wenig Parkgelegenheit und hohen Parkgebühren.
Das hier ist ein Bild aus einem Beitrag der BBC über die fietsstad Groningen, in der vornehmlich junge Menschen leben, die im Stadtzentrum selbst den Möbelkauf per Fahrrad erledigen …
Das Bild stammt aus dem Bericht Groningen: The World’s Cycling City von Streetfilms vom 10.10.2013,
den Sie unter https://www.youtube.com/watch?v=fv38J7SKH_g ansehen können
Das Rad ist für 2,50 € pro Stunde bei einem großen Möbelhaus ausleihbar, aber vielleicht nicht für Kunden aller Altersklassen gleichermaßen geeignet. Fietsen – ein bevölkerungspolitisches Thema auch in Sachen Kaufgewohnheiten …
Und weil Sie es sicher interessant finden, googeln Sie doch mal Bilder zu den Stichworten verhuizen fiets (verhuizen heißt umziehen).
Wir hatten gelesen, Ladenbesitzer machen die Erfahrung, dass viele Radfahrer Stammkunden werden (weil sie offenbar in der Nähe wohnen), während Autofahrer durchaus eher zur Laufkundschaft gehören. Wo die Prioritäten der Geschäftsleute liegen, ist nicht schwer zu erraten. Allerdings ist das kein vorhersehbar positives Ergebnis einer Versuchsanordnung. Wenn ein Einzelhandelsgebiet autofrei wird, stellen sich diese Ergebnisse allmählich heraus – oder auch nicht. Umsatzeinbußen, Kundenverluste, möglicherweise eine Pleite sind durchaus reelle Risiken.
Noch schwieriger haben es da die Geschäftsleute in der Provinz Limburg, weil ein erheblicher Teil ihrer Kunden aus dem Ausland kommt, also weitere Anfahrten hat und diese keinesfalls auf dem Fahrrad zurücklegt.
Hier bekommt fietsen eine komplizierte wirtschaftspolitische Komponente. Die 4,5 Millionen Kunden eines Outlet-Center in Roermond beispielsweise (2014) machen es nötig, dem motorisierten Verkehr eine Priorität einzuräumen, die im restlichen Land nicht gewollt ist.
Limburg hat aber auf Radfahrabstand kein niederländisches Hinterland, das solche fiets-fernen Kundenströme ersetzen könnte. Ein Balance-Akt, für den selbst ein gut funktionierender öffentlicher Nahverkehr keine wirkliche Lösung bereithält.
Neben wirtschaftspolitischen Entscheidungen sind hier auch regionale strukturpolitische Ansätze auf dem Prüfstand. Wie es um die Übertragbarkeit solcher Feinheiten auf andere Kulturen bestellt ist, steht auf einem ganz anderen Blatt,
Wirtschaftspolitik – beispielsweise für produzierendes Gewerbe und Industrie …
Im Jahr 2012 wurden in den Niederlanden etwas mehr als 1 Million neue Fahrräder gekauft. Bei einem Durchschnittspreis von etwa 725 € pro Rad waren das 754 Mrd. €.
Hier können Sie weitere Zahlen der landelijke fietsplatform downloaden https://www.fietsplatform.nl/uploads/Verdieping-2013-Fietsfeiten-Effecten-fietsbezit.pdf (Anm. d. Red. 28.02.23: PDF ist nur noch auf web.archive.org verfügbar).
Was genau diese Zahlen für das Bruttoinlandprodukt bedeuten, steht dort allerdings nicht. Das belief sich in 2013 auf etwas mehr als. 600 Mrd. Euro.
Wir müssten vielleicht mal genauer nachsehen, welchen Beitrag dazu die niederländische Fahrradindustrie lieferte. https://www.raivereniging.nl/fietsen (RAI = Rijwiel en Automobiel Industrie Vereniging) und wie diese Industrie überhaupt entstanden ist https://auto-en-vervoer.infonu.nl/fietsen/61488-nederlandse-fietsindustrie-in-de-19de-eeuw.html
Niederländische Fahrräder sind meist ausgereifte Produkte und werden auch in großen Stückzahlen exportiert, was die Außenhandelsbilanz … Sie verstehen schon …
Und dann gibt es ja noch die Zulieferindustrien für Zubehör wie Ketten, Schrauben, Schläuche, Klingeln, …
die Hersteller von Komplementärprodukten wie Straßenmobiliar, Fahrradabstellanlagen jeder Größe, Fahrradzubehör, Kindersitze und Körbe …
… und Blümchen und rosa Sättel …
Textilindustrie (Fahrradbekleidung) usw. usw. usw. …
Bauindustrie (Fahrradwege/Unterführungen/Kreuzungen/Brücken …)
Die Einflussnahme der niederländischen Autoindustrie auf Investitionen in Fahrradverkehr ist hingegen eher überschaubar, denn die Industrie ist sehr speziell aufgestellt.
Die Firma DAF – im Eigentum einer amerikanischen Firma – baut vornehmlich Lastwagen. Die ehemalige PKW-Sparte gehört der Vergangenheit an. In den Werkshallen in Born bei Sittard (Nedcar) werden heute in Lizenz für BMW Wagen des Modells Mini gebaut, die den niederländischen Markt als Teil des Weltmarkts ansehen.
Auch die Zulieferindustrie ist auf internationale Märkte ausgerichtet.
Politische Lobbyarbeit, wie wir sie von der deutschen Autoindustrie zur Durchsetzung eigener Ziele im eigenen Land kennen, gibt es in den Niederlanden deshalb nicht. Was der fiets(er)cultuur das Leben finanzpolitisch sehr erleichtert haben dürfte.
Allerdings hat die Autoindustrie inzwischen auf ganz andere Weise das Fahrrad für sich entdeckt: Dagblad de Limburger (DDL), am 11.04.2014
(Automarken setzen aufs E-Bike)
In dem Beitrag wird berichtet über Prototypen eines Audi-speed-Fahrrads sowie eines BMW-speed-Fahrrads, die chinesische Firma Quoros, VW, Ford, Porsche … offenbar sehen sie eine Zukunft in schnellen Fahrrädern bis zu 80 km/h. Wie sich das auf die Infrastruktur für fietsen auswirkt, werden wir abwarten müssen.
Wirtschaftspolitik – beispielweise für den Dienstleistungssektor …
Dazu gehört natürlich ganz sicher die Innovationskompetenz in Form von Beratungsleistungen (wie diejenigen für Peking) …
… und auch der Tourismus mit dem/ rund ums Fahrrad:
2010/2011 wurden bei Fahrrad-T a g e s a u s f l ü g e n 289 Mill. € ausgegeben, 63 % davon an Verzehr, der Rest für Eintrittsgelder und Teilnahmegebühren, Einkäufe in Geschäften und für sonstige Ausgaben.
Inländische F e r i e n mit dem Fahrrad erbrachten in der Saison April bis September 2012 weitere 201 Mill. €
Quelle: Landelijke Fietsplatform: Verdieping Effecten en Fietsbezit (2013), S. 3 u 4.
Parteipolitik mit Schwerpunkten
Der wirtschaftliche Nutzen der fiets(er)cultuur für die Niederlande und die Auswirkungen als Wirtschaftsmotor sind kaum aufzuzählen … und entsprechend politisch wirksam.
Parteipolitik beschäftigt sich intensiv mit fietsbeleid (Fahrradpolitik) auf der Ebene von
Gemeenteraadverkiezingen (Gemeinderat) oder
provinciale Statenverkiezingen (Provinzregierungen) oder
Tweede Kamer (Zweite Kammer, Staatsregierung)
Nur mal ein kleiner Blick in die Suchergebnisse bei Google zum Thema.
Der Stellenwert der Fahrradpolitik wird natürlich unterschiedlich stark gewichtet, ist aber fast überall ein bedeutender Teil von Parteiprogrammen auf allen politischen Ebenen.
Das hier fanden wir allerdings, als wir (natürlich wieder mal neugierig) Punkt 6 oben in den Google-Ergebnissen anklickten, weil wir wissen wollten, warum da steht:“ Acht von zehn politischen Parteien: Aufmerksamkeit fürs Fahrrad“ Es geht um die Wahl zur Tweede Kamer, also um Politik für das gesamte Königreich der Niederlande.
Sie kennen die niederländische Parteienlandschaft nicht? Dann schauen Sie bitte dringend nach unter
https://www.uni-muenster.de/NiederlandeNet/nl-wissen/politik/parteien/index.shtml (Anm. d. Red. 23.01.24: Seite nur noch via web.archive.org zu erreichen.)
Vielleicht vergleichen Sie dies mit allem, was Sie über die chinesische Parteienlandschaft und zentralistische Regierung wissen. Dass die Förderung des fiets in China unter staatlicher Einflussnahme vor sich geht, ist unvermeidlich. Ob Chinesen allerdings ebenfalls einen nationalen Habitus – also dieses persönliche Selbstverständnis – im Umgang mit dem Fahrrad entwickelt haben, ist für uns von hier aus leider nicht feststellbar. Ihre eigene Radfahr-Tradition steht zumindest für ein langjährig bewährtes individualisiertes und kostengünstiges Transportsystem.
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